Mein erster Poetry Text wird immer ein ganz besonderer Text für mich sein. Und er ist für mich ein Maßstab, was Ehrlichkeit und Authentizität angeht, für alle meine Texte...
Schwamm
„Eigentlich ist kein Wort“, hat mal jemand zu mir gesagt
Und
„Du bist ein Schwamm“, hat mal jemand zu mir gesagt.
Und
„Du musst dich entscheiden“, hat mal jemand zu mir gesagt.
Ich war empört und verletzt. Denn eigentlich bin ich kein Schwamm und ich habe in meinem Leben eigentlich auch schon viele Entscheidungen getroffen.
Da war die Sache mit dem besten Freund. Eigentlich hatte ich nie „den besten Freund!“ Es gab doch so viele „beste Freunde!“ Der Junge mit dem ich schon im Sandkasten gespielt hatte und mit dem ich von Schule zur Schule durch dick und dünn gegangen bin. Oder der Junge, der im Fußballverein hinter mir den Libero spielte und eigentlich auch auf dem Spielplatz immer hinter mir stand. Oder die Jungs, mit denen ich Jahr für Jahr ins Zeltlager gefahren bin. Mit denen ich in der Nacht am Lagerfeuer saß und bei denen klar war, dass wir nie alleine in der Nacht zum Donnerbalken gehen mussten.
„Eigentlich ist kein Wort“, hat mal jemand zu mir gesagt
„Du bist ein Schwamm“, hat mal jemand zu mir gesagt.
„Du musst dich entscheiden“, hat mal jemand zu mir gesagt.
Da war die Sache mit der Berufswahl. Eigentlich war ich ja gar kein so schlechter Schüler und eigentlich wollten meine Eltern ja auch nur das Beste für mich, wenn sie meinten, „ich solle das Abitur machen!“ Aber nach den ersten Wochen in der Lehre, war mir eigentlich schon klar, dass ich das nicht ein Leben lang machen wollte. Und dennoch kam ich nach der Lehre zu keiner Entscheidung, in welche Richtung meine Richtung nun gehen sollte. Was, wenn der rechte Weg doch der einfachere Weg gegenüber dem linken Weg ist? Und vielleicht gibt es ja noch einen Weg, der an beiden anderen Wegen vorbei geht und auch zum Ziel führt? Aber dazu müsste ich wissen, was mein Ziel ist?
„Eigentlich ist kein Wort“, hat mal jemand zu mir gesagt
„Du bist ein Schwamm“, hat mal jemand zu mir gesagt.
„Du musst dich entscheiden“, hat mal jemand zu mir gesagt.
Da war die Sache mit der ersten Liebe und dem Gefühl, dass die ganze Welt zusammenbricht. Gibt es wirklich noch so viele andere Töchter von anderen Müttern? Stimmt dieser Satz: „Schau dir die Mutter an, dann weißt du später welche Frau du an deiner Seite hast!“? Küssen wirklich alle Mädchen gleich? Fühlen sich alle Mädchen so an? Und was ist mit dem Geruch, der Haut und den anderen Dingen, die Jungs an sich haben? Sind die besser? Oh Nein, falscher Gedanke, das nicht. Eigentlich wusste ich ja, was ich wollte. Und das war gut und sicher und konstant. Eigentlich war der Weg doch dann perfekt vorgezeichnet. Kinder, Hund und Haus. Ach ja der Baum noch.
„Eigentlich ist kein Wort“, hat mal jemand zu mir gesagt
„Du bist ein Schwamm“, hat mal jemand zu mir gesagt.
„Du musst dich entscheiden“, hat mal jemand zu mir gesagt.
Dann kam die Sache mit dem Feuer. „Wer mit dem Feuer spielt, der kommt darin um“, pflegte meine Mutter stets zu sagen. Eigentlich hatte meine Mutter immer recht, naja fast immer. Ihr zu beweisen, dass es nicht so ist, war nicht mein Ziel. Eigentlich! Denn da war dieser Duft, da war dieses Lachen, da war diese Vertrautheit, da war diese Geborgenheit, da war diese Lust, da war dieses Puzzlestück, da war diese zweite Welt. Da war aber auch diese Verantwortung, diese Pflicht, diese Gewohnheit, das Rationale, da war dieser Schwamm. Habe ich gerade Schwamm gesagt? Kann nicht sein. Bin ich nämlich eigentlich nicht.
„Eigentlich ist kein Wort“, hat mal jemand zu mir gesagt
„Du bist ein Schwamm“, hat mal jemand zu mir gesagt.
„Du musst dich entscheiden“, hat mal jemand zu mir gesagt.
Dann kam die Sache mit der Erkenntnis. Die Erkenntnis, dass es gar nicht so schlimm ist ein Schwamm zu sein. Man sollte einen Schwamm nicht immer feucht halten. Wenn er ab und zu austrocknet, verändert sich seine Oberfläche. Sie wird spröde und hart. Man kann sich auch mit einem harten Schwamm den Rücken schubbeln. Das regt die Durchblutung an und eine gute Durchblutung ist gut fürs Herz und das Gehirn. Und mit einem gut durchblutetem Herzen und einem wachen Verstand gelangt man auch zu Erkenntnissen. Guten Erkenntnissen!
Das Wörtchen „eigentlich“ kommt aus dem mittelhochdeutschen und bedeutet dort: Ausdrücklich oder Bestimmt. Daher fällt es mir leicht sehr bestimmend zu sagen und ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ich meinen Schwamm mag. Ja, ich liebe meinen Schwamm. Er begleitet mich mein ganzes Leben. Er ist mal nass und flutschig, dann wieder hart und spröde. Er ist mal weich, dann wieder bestimmend. Ich bin froh, dass ich ihn habe. Denn auch er hat mich zu meiner Erkenntnis geführt.
Eigentlich ist ein Wort!
Ein Schwamm bin ich gerne!
Und entschieden habe ich mich für dieses Leben!
Stephan Sandkühler